Leipzig-Grünau
Plattenbausiedlung der Superlativen
Leipzig-Grünau – ein Projekt der Superlativen. Zwölf Jahre lang wurde ab Juni 1976 im Westen der Metropole Leipzig gebaut. Insgesamt 37.600 Wohnungen entstanden auf einem Areal, das vier Kilometer lang und zweieinhalb Kilometer breit ist.
Allein für den Wohnungsbau betrieben die Baukombinate sieben Taktstraßen gleichzeitig, wobei zeitweise bis zu 5.000 Arbeitskräfte auf der Großbaustelle beschäftigt waren. 1989 lebten hier 85.000 Menschen. Leipzig-Grünau ist, neben Berlin-Marzahn und Halle Neustadt, das größte Plattenbaugebiet in der ehemaligen DDR und noch heute die größte Plattenbausiedlung Sachsens.
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Gesamtplan des Wohngebiets Leipzig-Grünau, entstanden in der Planungsphase. Gekennzeichnet sind die Wohnkomplexe (WK) 1 bis 8. Nördlich von WK 2 war WK 6 geplant, wurde jedoch wegen Problemen mit der Bodenbeschaffenheit nie realisiert. Das Wohngebietszentrum (WGZ) heißt heute WK 5.2. Grafik: Horst Siegel -
Komplexzentrum des WK 7, Ausschnitt der Zeichnung von Hans-Dietrich Wellner, 1979 -
Wohnhochhaus an der Alten Salzstraße im Wohnkomplex (WK) 2 mit der legendären Gaststätte „Grünauer Krug“, die heute noch in Betrieb ist. Foto: Archiv Komm-Haus, Leipzig-Grünau -
Wohnkomplex 1 im Juli 1979. Vorhandener Baumbestand wurde in die Planung mit einbezogen. Foto: Friedrich Gahlbeck, Bundesarchiv -
Fußgängerzone Alte Salzstraße im Wohnkomplex 2 im Juli 1986 mit Trinkwasserbrunnen von Otto Berndt Steffen. Foto: Friedrich Gahlbeck, Bundesarchiv -
Leipzig-Grünau im Juni 1981. Die Kinderkrippen/gärten waren innerhalb der Wohnhöfe als Flachbauten angesiedelt. Foto: Friedrich Gahlbeck, Bundesarchiv -
Südliche Randbebauung im Wohnkomplex 4. Foto aus: Architektur der DDR 5-1986 -
Fußgängerweg durch das Wohngebiet im Juni 1982, im Hintergrund ein Punkthochhaus vom Typ PH16. Foto: Friedrich Gahlbeck, Bundesarchiv -
Bischof Gerhard Schaffran bei der Grundsteinlegung des katholischen Gemeindezentrums St. Martin, 1983. Was auf den offiziellen Fotos nicht gezeigt wird, ist hier sehr deutlich zu sehen: die fertigen Wohngebäude stehen noch jahrelang im Dreck, weswegen Grünau auch „Schlammhausen“ genannt wurde. Foto: Harald Kirschner, Mitteldeutscher Verlag -
Das Unfertige und Baustellenhafte hatte auch seinen Reiz, bot es doch unendliche Spielmöglichkeiten für die Kinder, hier im Wohngebietszentrum, 1983. Foto: Harald Kirschner, Mitteldeutscher Verlag
Stadt vom Reißbrett
Die Großsiedlung Leipzig-Grünau gliedert sich in acht Wohnkomplexe, die durch drei in Ost-West-Richtung verlaufende Verkehrstrassen erschlossen sind. Jeder Wohnkomplex hat ein eigenes, kleines Zentrum, meist rund um den S-Bahn-Haltepunkt herum.
Die Grundsteinlegung fand im Juni 1976 im Wohnkomplex 1 statt. In Folge starteten auch die Bauarbeiten in den Wohnkomplexen 2 und 3. Bis 1984 waren WK 1, 2 und 3 mit insgesamt 6.300 Wohnungen fertig gestellt. Die ursprünglichen Intentionen der Stadtplaner, wie eine aufgelockerte Bebauungsstruktur mit mehrheitlich 5-geschossigen Häuser und großzügigen, begrünten Innenhöfen, sind hier heute noch erlebbar.
In Wohnkomplex 4 wurden ab 1978 erstmals konusförmige Haussegmente eingesetzt, um damit bei den Gebäudegeometrien vom rechten Winkel abweichen zu können. Bereits hier stockte man von fünf auf sechs Geschosse (ohne Fahrstuhl!) auf, um dem Politbürobeschluss von 1977 gerecht zu werden, der eine Erhöhung der Bebauungsdichte verlangte. Die 8.800 Wohnungen im WK 4 wurden bis 1984 übergeben.
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Fussgängerweg Alte Salzstrasse im Wohnkomplex 4: zentral Lage innerhalb Grünaus, ganz in der Nähe von Kletterfelsen und Schwimmbad. Durch die Einführung des Konuselements konnten hier erstmals abgewinkelte Häuserzeilen gebaut werden. Foto: Martin Maleschka -
Elfgeschosser mit Mosaik im Wohngebietszentrum, das später in Wohnkomplex 5.2 umbenannt wurde. Foto: Martin Maleschka -
Auf den historischen s/w-Foto sieht Grünau grau aus, doch viele der Grünauer Fassaden wurden in Rottönen angelegt, wie hier in der Ludwigburger Straße im Wohnkomplex 5.2. Foto: Martin Maleschka -
Blick vom Allee-Center aus auf die elfgeschossige Bebauung entlang der S-Bahn-Trasse im Wohnkomplex 4. Foto: Martin Maleschka -
Eine Gruppe von drei PH16 Wohnhochhäusern im Wohnkomplex 4 blieb vom Rückbau verschont. Foto: Martin Maleschka -
Betonskulptur unbekannter Herkunft auf der Rückseite der Wohnbauten Breisgaustraße. Foto: Martin Maleschka -
Elfgeschossige Wohnbebauung entlang der S-Bahn-Trasse in der Breisgaustraße im Wohnkomplex 4. Foto: Martin Maleschka -
Wohnriegel angeinandergeschmiegt – Wohnbauten Breisgaustraße, verbunden mit Konuselementen der WBS 70. Foto: Martin Maleschka -
Wohnen im Grünen: laut der Intervallstudie zur Wohnzufriedenheit von Prof. Siegrun Kabisch machen unter anderem der Baumbestand und die ausgedehnten Parkflächen Grünau für seine Einwohner lebenswert. Foto: Martin Maleschka -
Sanierte Bauten am östlichen Rand des WK 4, betrachtet vom Park auf der anderen Seite der Schönauer Straße. Foto: Martin Maleschka
Planung Schritt für Schritt
Am mit 3.300 Wohnungen etwas kleineren Wohnkomplex 5 ist interessant, dass die alte Dorflage Schönau in dessen Planung integriert wurde. Die Kirche und das Pfarrhaus mit einigen umgebenden Gebäuden konnten dabei erhalten bleiben, andere Altbauten mussten weichen.
Im WK 5 wurden die konusförmigen Hauselemente so eingesetzt, dass eine geschwungene Bebauung entstand. Neu sind neungeschossige Punkthochhäuser vom Typ PH 9, die das Baukombinat Leipzig auf Grundlage der WBS 70 entwickelte. Der Wohnkomplex 6 entstand nur auf dem Papier, wegen Gründungsproblemen verzichtet man den entsprechend teueren Bau.
Etwas abseits im Westen Grünaus wurde ab 1980 mit dem Bau von WK 7 begonnen. Das Besondere am Wohnkomplex 7 ist die strahlenförmige Ausrichtung der Wohngebietsstraßen auf das Zentrum hin. Hier wurden noch einige Punkthochhäuser vom Typ PH 16 platziert, die heute allesamt abgerissen oder rückgebaut sind. Auch PH 9 und PH 6 fanden Anwendung. Insgesamt wurden bis 1985 7.500 Wohnungen errichtet.
Akuter Wohnungsmangel und der entsprechende Politbürobeschluss zur Einsparung der Mittel und Verdichtung der Bebauungsstruktur traf die Planung und den Bau des WK 8 mit voller Wucht. Es sollte auf Schnickschnack verzichte und dadurch schneller gebaut werden. Konuselemente, sowie Punkthochhäuser fielen dem Rotstift zum Opfer.
Der WK 8, gebaut von 1981 bis 1986, ist sechsgeschossig auf ganzer Linie. Durch das Baukombinat Leipzig entwickelte Dreispänner, statt der bisher üblichen Zweispänner, erhöhten die Wohnungsanzahl weiter. Die Intervention der Bauakademie verdichtete das Baugebiet so sehr, dass ohne Hochhausbauten 2.100 mehr Wohnungen auf gleicher Fläche errichtet wurden, als ursprünglich geplant – insgesamt 8.700.
Schließlich begann 1984 der Bau des Wohngebietszentrums, das später folgerichtig in WK 5.2 umbenannt wurde, da es entgegen der Idee, hier übergreifende Infrastruktur zu häufen, eher als reguläres Wohngebiet umgesetzt wurde. Mit zusätzlichen 2.600 Wohnungen endete hier 1988 der Wohnungsbau in Grünau planmäßig, wobei zahlreiche, in der ursprünglichen Planung vorgesehenen Versorgungs- und Freizeiteinrichtungen auf der Strecke geblieben waren.
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Fassadengestaltung aus unterschiedlich gefärbten Plattenbauteilen am Eingang der Mittelschule in der Stuttgarter Allee im WK 4 in Leipzig-Grünau. Im Hintergrund ein Wohnhochhaus vom Typ PH 16. Foto: Martin Maleschka -
Geometrisches Muster über dem Eingang des Schulgebäudes in der Mannheimer Straße im WK4, das heute leer steht. Foto: Martin Maleschka -
Farbige Fassadenelemente über dem Eingang der 91. Grundschule in der Uranusstraße im WK 7. Foto: Martin Maleschka -
Mosaik von Gert Pötzschig und Karl-Heinz Hase, 1984. Die Wandgestaltung aus Spaltklinkern befand sich über dem Haupteingang der heutigen Friedrich-Fröbel-Grundschule im WK 4 in Leipzig-Grünau. Das Kunstwerk wurde gesichert und soll möglicherweise an anderer Stelle wieder errichtet werden. Foto: Martin Maleschka -
Abstrakte Kunst mit den Motiven „Hammer und Sichel“, „Friedenstaube“ und „Sonne“ über dem Eingang der Friedrich-Fröbel-Schule in der Alten Salzstraße im WK 4. Foto: Martin Maleschka -
Schulgebäude ohne Mosaik: die Fröbelschule im WK 4 heute, nachdem das Mosaik entfernt wurde. Die orange gefärbten Fliesen des Werkes neben dem Eingang wurden jedoch nicht gesichert und befinden sich weiterhin am Gebäude. Foto: Martin Maleschka -
Fassadenkunst im Nord-Osten: die Industrieemaille auf Stahlblech mit dem Titel „Entwicklung des Flugwesens“, 1976/77 von Karl-Heinz Schmidt gestaltet, befindet sich am Haupteingang der damaligen POS Komarow II in der Komarowstraße, Leipzig-Mockau. Das Gebäude wurde nach der Wende in „Berufliches Schulzentrum 12 (BSZ) Robert Blum“ umbenannt. Nach der bevorstehenden Sanierung soll die 66. Grundschule hier einziehen. Foto: Martin Maleschka -
Schlichte Fensterbänder ohne Fassadenkunst: Förderschule für geistig Behinderte am Neptunweg im WK 7, Leipzig-Grünau. Foto: Martin Maleschka -
Ehemaliges „Heim für sehbehinderte Kinder Wladimir Filatow“, dann „Berufsbildungswerk Leipzig für Hör- und Sprachgeschädigte“ in der Weißdornstraße im WK 3. Heute ist das Gebäude saniert und umgebaut zu einer Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete mit 175 Plätzen in Betrieb und einer Kapazität von bis zu 300 Plätzen. Foto: Martin Maleschka
Kurze Wege
Bis zur Wende waren alle Wohngebäude nach Plan fertiggestellt. Insgesamt wurden in Grünau 23 Oberschulen und 24 sogenannte „Kinderkombinationen“ – Kinderkrippe und Kindergarten in einer Einrichtung – als drei- und viergeschossige, vom Baukombinat Leipzig entwickelte Typenbauten errichtet.
Die Bewohner schätzten die kurzen Wege zu Schulen und Kitas, wie die Einwohnerbefragungen im Rahmen der Intervallstudie „Wohnen und Leben in Grünau“ zeigen. Sie genossen außerdem das grüne Wohnumfeld und die Nähe zu Parks und Naherholungsgebieten.
Die Infrastruktur ließ jedoch weiterhin zu wünschen übrig. Um den Mangel zu beheben, wurden Mitte der 1990er Jahre zwei Einkaufszentren errichtet, sowie ein Kino mit acht Sälen und die von den Anwohnern lang ersehnte Schwimmhalle.
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Elfgeschossige Variante des WBS 70 in der Alten Salzstraße im Süden des WK 2. Die ursprügliche Fassadengliederung ist erhalten geblieben. Foto: Martin Maleschka -
Fassadendetail mit eingelegten Fliesenelementen in der Alten Salzstraße im WK 2. Foto: Martin Maleschka -
Geometrische Gestaltung der Giebelfläche in der Alten Salzstraße im WK 2. Foto: Martin Maleschka -
Natursteinplastik „Turm der Jugend“ von Harald Stephan, 1988 an der Kreuzung Alte Salzstraße/Grünauer Allee im WK 2 aufgestellt, 4,50 Meter hoch bei einem Durchmesser von 1,20 Metern. Foto: Martin Maleschka -
Detail „Turm der Jugend“ von Harald Stephan. Foto: Martin Maleschka -
Sechsgeschosser mit Blick ins Grüne. Foto: Martin Maleschka -
Zwei von fünf Doppelhochhäusern PH 9, Typ Leipzig, im Südosten des WK 7, links im Bild ein bereits saniertes Gebäude diesen Typs. Foto: Martin Maleschka -
Wohnhochhaus PH 9, eine Eigenentwicklung des Baukombinats Leipzig auf Grundlage des Elementesortiments der WBS 70, hier alleinstehend am süd-westlichen Rand des WK 7. Dieser Typ wurde für Restflächen verwendet. Foto: Martin Maleschka -
Geschwungene Bauten am Schönauer Ring im WK 5.1. Gegenüber dieser im Viertelkreis angeordneten Gebäude wurden im Jahr 2013 300 Wohnungen abgerissen. Zwei weitere Wohngebäude wurden vor der Sanierung von sechs auf vier Geschosse reduziert. In direkter Nachbarschaft wird aber auch neu gebaut. Foto: Martin Maleschka -
Ursprünglich waren Fünfgeschosser geplant, wie sie in WK 1 bis 3 realisiert wurden. Um die Bebauungsdichte zu erhöhen, baute man in Grünau ab 1977 per Politbürobeschluss sechsgeschossig – weiterhin ohne Aufzug. Foto: Martin Maleschka
Was nach 1989 passierte
Trotzdem folgten Wegzug, Leerstände, Verwahrlosung – bis 2006 schrumpfte die Einwohnerzahl auf 45.000. Zwischen 2002 und 2007 wurden 5.600 Wohnungen abgebrochen, bis 2013 weitere 1.900. Besonders viele Punkthochhäuser von Typ PH16 mussten dran glauben, was das Stadtbild stark verändert hat.
Und jetzt: Ende 2017 berichtet die Leipziger Wohnungsgenossenschaft Lipsa vom Neubau eines zwölfgeschossigen Wohnhochhauses am Kulkwitzer See, die Baugenehmigung für das Hochhaus liege bereits vor, Baubeginn sei für Juni 2018 anvisiert. Drei weitere Neubauten sind bereits fertiggestellt.
Paradox? Vielleicht, seit 2012 stehen die Zeichen jedenfalls wieder auf Wachstum, sowohl, was die Stadt Leipzig insgesamt, als auch den Stadtteil Grünau im Besonderen betrifft.
Quellen
„Grünau – Geplantes und Gebautes von 1959 bis 1990“ von Thomas Hoscislawski, in „Raster Beton“, herausgegeben von Juliane Richter, Tanja Scheffler und Hannah Sieben, M Books Verlag, Weimar 2017
Diverse Artikel in den Zeitschriften „Architektur der DDR“, Band 6-1977 und 5-1986