Nikolaiviertel Berlin
Historisches Zentrum - neu entworfen
Die Bebauung auf der Fläche des heutigen Nikolaiviertels wurde während des Zweiten Weltkriegs fast vollständig zerstört. Bis in die 60er Jahre lehnten die Stadtplaner der DDR eine Rekonstruktion alter Strukturen ab.
1979 jedoch beschlossen Staatsführung, Parteigremien und Stadtverwaltung „zur Freude der Bürger“ Berlins ältestes Bauwerk, die Nikolaikirche, und bis zum Stadtjubiläum auch den umliegenden ältesten Teil Berlins, das Nikolaiviertel, in ursprünglicher Dichte wiederaufzubauen.
Der Ost-Berliner Magistrat schrieb einen Wettbewerb zur Gestaltung des Gebiets aus. Gewinner war das Team um Günter Stahn, Wolfgang Woigk und Reiner Rauer.
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Das Nikolaiviertel in Berlin wurde Anfang der 1980er Jahre komplett neu erschaffen. Historische Rekonstruktionen aus verschiedenen Zeitepochen wechseln sich mit historisierenden Plattenbauten ab. Alle Fotos: Christian Lindner -
Giebelhäuser mit Grachtencharakter sind für das Nikolaiviertel historisch nicht belegt. Idee und Entwurf entstammen der Feder des Architekten Günter Stahn. Für den Straßenschmuck bediente er sich in den Depots der Staatlichen Museen. Auf dem Platz an der Spree steht der "Drachentöter", das Reiterstandbild des heiligen Georg von August Kiss aus dem Jahr 1853. Die Bronzeskulptur befand sich ursprünglich im ersten Hof des Stadtschlosses. -
Rund um die wiederaufgebaute Nikolaikirche wurden Bürgerhäuser im mittelalterlichen Stil rekonstruiert. -
Während sich die straßen- und spreeseitigen Fassaden der WBS70-Wohnhäuser in ihrer Gliederung an den Altbaubestand anpassen, prägt die Hofseiten das pure, flächige Fugenraster der Platte. -
Tragende Beton-Querwandscheiben bilden die Arkaden, die nach oben durch vorgefertigte Betonbogenelemente geschlossen wurden. Der vordere Teil der Querwand ist auf einen quadratischen Stützbogenquerschnitt mit gebrochenen Ecken reduziert, die Sichtflächen durch zwischen die Stützen gespannte, jeweils sechs Meter breite Außenwandplatten mit bogenförmiger Aussparung geschlossen. -
Arkadenganghäuser in der Poststraße/Ecke Propststraße: Vertikale Riffelungen in der Außenhaut der Wandplatten und herausragende Betonscheiben erzeugen einen plastischen Fassadeneindruck. -
Mittelalterlich-hanseatischer Eindruck im Zentrum Berlins. Insgesamt wurden 800 Wohnungen im neu gebauten Nikolaiviertel errichtet. -
Der lange und detailreiche Fries, geschaffen vom Künstler Gerhard Thieme, zieht sich von der Rathausstraße bis in die Poststraße. Stilistisch und zeitlich knüpft Thieme an das Terrakotta-Relief im Roten Rathaus an. Der Fries schreibt die Berliner Geschichte aus sozialistischer Perspektive bis in die jüngste Vergangenheit fort. -
Fassadendetail an der Rathausbrücke: Das Emblem „Stadt des Friedens“ hat der Künstler Gerhard Thieme zur 750-Jahr-Feier Berlins hergestellt. Damals stand noch der Palast der Republik schräg gegenüber.
Historisches neu ausgedacht
Das Architektenteam schlug vor, die historische Gliederung des Gebiets mit den ursprünglichen Straßen und Plätzen weitgehend wieder herzustellen und ein Ensemble aus rekonstruierten und modernen Gebäuden zu erschaffen.
Die Gasse zum Spreeufer (in Verlängerung der Probststraße) sowie die Gasse „Am Nussbaum“ haben die Planer hinzugedichtet – die gab es historisch nicht. Auch einige historische Gebäude kamen hinzu, die dort nie standen. Ein bisschen Freilichtmuseum musste sein.
„Uns ging es nicht um die Rekonstruktion der Berliner Altstadt, sondern um die Rekonstruktion eines städtischen Raums, der das alte Berlin erlebbar macht“, sagte Günter Stahn 2007 in einem Interview.
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Perspektivische Zeichnung des Architekten Günter Stahn, 1982: Blick auf die Bebauung um die Nikolaikirche im Stadtzentrum von Berlin. Quelle: „Das Nikolaiviertel am Marx-Engels-Forum“, Günter Stahn, 1985 -
Lageplan mit historischer und neuer Bebauung von Günter Stahn. Quelle: Architektur der DDR, 05/1987 -
Zeichnung von Günter Stahn: Blick vom Spreeufer in die Propststraße Quelle: Architektur der DDR, 05/1987 -
Arbeitsstudie von Günter Stahn, 1984: Blick auf den Eingang zur Poststraße mit den sogenannten „Schwalbennestern“. Im Hintergrund die Nikolaikirche und die Gerichtslaube. Quelle: „Das Nikolaiviertel am Marx-Engels-Forum“, Günter Stahn, 1985 -
Blick vom Marstall auf die Bebauung der Burgstrasse, rechts das Kurfürstenhaus (Bautenstand im April 1984). Quelle: „Das Nikolaiviertel am Marx-Engels-Forum“, Günter Stahn, 1985 -
Wohnungsbau in der Poststraße (Bautenstand 1985). Quelle: „Das Nikolaiviertel am Marx-Engels-Forum“, Günter Stahn, 1985
Rekonstruktion mit Platte
Neuaufgebaute Bürgerhäuser im Stil des 17. und 18. Jahrhunderts dicht um die Nikolaikirche wurden durch eine moderne Wohnbebauung in Plattenbauweise ergänzt. Da der Plattenbautyp WBS70, der Ende der 1970er Jahre fast ausschließlich produziert wurde, sich nur bedingt für den Einsatz in der Innenstadt eignete, entwarfen Ingenieure zahlreiche Sonderlösungen.
Die tragenden Wandquerscheiben fertigte man monolithisch aus Beton vor Ort. An dieser Tragkonstruktion befestigten die Monteure die vorgefertigten Außenwandplatten. Der VEB Stuck und Naturstein Berlin stellte sie aus strukturiertem Waschbeton her – im Negativverfahren mit Abbinderverzögerer, was eine detaillierte Gestaltung der Oberfläche erst möglich machte.
Die Fassadenplatten hatten flexible Anschlüsse, um an vorhandene Bausubstanz anschließen und auch nicht-orthogonale Richtungsänderungen mitmachen zu können. Rasterzwischenmaße waren notwendig, um die gewünschte kleinteilige Raumstruktur überhaupt herstellen zu können.
Lisenen, Simse, Sockelplatten und Schaufensterrahmungen, ebenfalls aus Betonwerkstein, wurden schließlich den großen Außenwandplatten der Wohn- und Geschäftshäuser vorgehängt.