Wiener Flur & Heinz-Nittel-Hof
Mit Schwimmbad und Sauna im Plattenbau
Mit rund 36.000 Wohnungen, die nur zirka vier Prozent des Gesamtbestands ausmachen, ist die Plattenbauweise in der österreichischen Hauptstadt nicht besonders dominant. Dennoch sind die hauptsächlich in den 1960er und 1970er Jahren errichteten Plattenbausiedlungen wichtiger Bestandteil und Beispiel für den so genannten Sozialen Wohnungsbau in Wien. Eine kleinere unter den fünf Wiener Plattenbaufirmen hatte sich neben der Produktion von Standardbauteilen darauf spezialisiert, Kundenwünsche und Architektenentwürfe umzusetzen. Das stellte zur damaligen Zeit eine Pionierleistung im Plattenbausektor dar. Die Siedlungen Wiener Flur und Heinz-Nittel-Hof zeigen die gestalterische Vielfalt der Betonfertigteilbauweise.
"Das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl."
In seiner Heimatstadt Wien hat der Architekt Kilian Mattitsch für uns diese zwei außergewöhnliche Plattenbausiedlungen fotografiert.
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H.-Nittel-Hof: Der Heinz-Nittel-Hof ist eine städtische Wohnhausanlage im 21. Wiener Gemeindebezirk Floridsdorf im Norden Wiens, 1980 errichtet nach Plänen des Architekten Harry Glück. Das Terrassenhaus mit 1380 Wohneinheiten wird über Tiefgaragen erschlossen. Dadurch konnte Glück das Gelände sehr dicht bebauen und gleichzeitig großzügige Grünanlagen anlegen. -
H.-Nittel-Hof: Wohin läuft das Kind hinter der gläsernen Terrassenbrüstung? Zum Schwimmbecken! Hohe Wohnqualität zeigt sich unter anderem in einem guten Freizeitangebot für die Anwohner. Architekt Harry Glück stattete alle Projekte des sozialen Wohnungsbaus mit Schwimmbädern auf den Flachdächern aus – und blieb dabei trotzdem unter den Kosten vergleichbarer Wiener Wohnungsbauprojekte. -
H.-Nittel-Hof: Die W-Form der Gebäude sorgt für eine gute Besonnung. Und halbüberdeckte Loggien sind am besten nutzbar - sie seien deshalb am beliebtesten bei den Bewohnern, sagt Architekt Glück. -
H.-Nittel-Hof: Holzfenster und mit Reliefs gestaltete Sonderbauteile setzen die Heinz-Nittel-Siedlung ab von den eintönigen Zeilenbauten auf der gegenüberliegenden Straßenseite. -
Wiener Flur: In den späten Plattenbausiedlungen in Wien sind die Gebäude keine reinen Zeilen- oder Punktbauten mehr - abwechslungsreichere Grundrisse geben ihnen einen individuellen Charakter. Allerdings hier mit dem Nachteil, dass in einigen Wohnungen Wohnzimmer und Loggia nach Norden ausgerichtet sind. Die drei abgebildeten Gebäude sind nur ein Teil der insgesamt sieben annähernd U-förmigen Wohnblöcke, die regelmäßig um einen großen zentralen Grünraum angeordnet sind. Foto: Kilian Mattitsch -
Wiener Flur: Große, halbrunde Pflanzschalen aus Beton akzentuieren die Brüstungsecken der Loggien. Foto: Kilian Mattitsch -
Wiener Flur: Alle Eingänge der Wohngebäude liegen im Hof. Sie werden durch die mittig in den Straßenfassaden liegenden Durchgänge erschlossen. Foto: Kilian Mattisch -
Wiener Flur: Mit 824 Wohnungen ist die Siedlung Wiener Flur die größte kommunale Wohnhausanlage in der ehemaligen Ortschaft Siebenhirten im 23. Bezirk im Süden Wiens. Die Wohnanlage in der Karl-Tornay-Gasse 37-43 in 1230 Wien wurde ursprünglich vom Architekt Rupert Falkner für einen ausgeschriebenen Wettbewerb im Jahr 1970 geplant. Obwohl Falkner den Wettbewerb gewann, wurde das Projekt in den Jahren 1978 bis 1980 von den Architekten Rudolf und Klara Hautmann sowie Friedrich Rollwagen völlig umgeplant und schließlich realisiert. Foto: Kilian Mattitsch -
Wiener Flur: Die Außenhaut ist aus rechteckigen hellgrauen Sichtbetonplatten zusammengesetzt. Das eingeritzte Liniengefüge vernetzt die Fensteröffnungen und erweckt den Eindruck einer plastischen Durchgestaltung der Wandfläche. Foto: Kilian Mattitsch -
Wiener Flur: Auch die Durchgänge zum Innenhof sind mit Reliefs plastisch gestaltet. Foto: Kilian Mattitsch -
Wiener Flur: Die Wohnblöcke an den Längsseiten sind achtgeschossig, jene in den Grundstücksecken haben nur sieben Geschosse. Alle Innenhöfe sind auf die Grundstücksmitte hin ausgerichtet. Das auffälligste optische Signal der Gesamtanlage ist die wie eine Ziehharmonika gefaltete Außenhaut. Foto: Kilian Mattitsch
Große Dichte - großes Glück
In der Siedlung Heinz-Nittel-Hof ist die Dichte der Wohnungen fast doppelt so hoch, wie bei vergleichbaren Wohnanlagen - gleichzeitig sind die Bewohner hier zufriedener. Wie geht das?
Harry Glück, Architekt des Heinz-Nittel-Hofs, setzte sich ein Architektenleben lang für eine hohe Wohnqualität im Sozialen Wohnungsbau ein. In über 30 Jahren war er am Bau von über 14.000 Wohnungen beteiligt.
Beim Heinz-Nittel-Hof, wie auch bei zahlreichen seiner anderen Projekte, kommen die Bewohner über Tiefgaragen in die Treppenhäuser. So schaffte Glück auf dem Grundstück Platz für viele Wohnungen und zugleich für Grünräume und Spieloasen.
Zur Überraschung (auch der Soziologen) erreicht der Wiener Architekt gerade durch die höhere Dichte mehr Wohnwert - ein reichhaltigeres Freizeitangebot und die freie Aussicht ins Grüne überzeugen die Bewohner. Gleichzeitig richtete er fast alle Wohnungen zur Sonne aus - nach Südost oder Südwest.
Ein tiefer, bepflanzbarer Balkon oder gar eine Terrasse, die in einen größeren Grünraum hineinragen, gehörten bei Glück zu jeder Wohnung ebenso dazu wie die Schwimmbäder auf den Flachdächern. Trotz dieser vermeintlichen Luxusausstattung schaffte Glück es, seine Projekte kostengünstiger zu bauen als vergleichbare Wohnbauten.
Zwangsbauweise
Dass die Bauelemente der Heinz-Nittel-Siedlung seriell vorgefertigt sind, ist für Harry Glück eine Nebensache.
„Wir hatten das Projekt in Mischbauweise geplant“, sagt der heute 87-jährige Architekt, „die Plattenbautechnik wurde uns aufgenötigt.“
Laut Glück wollte die Stadt Wien ihre eigenen defizitären Plattenwerke beschäftigen, die damals stark verschuldet waren.
Grundsätzlich plädiert der Wiener Architekt für die Mischbauweise: die Tragkonstruktion vor Ort erstellen und das Ganze mit leichten Teilen ausbauen, sei ideal. „Alles mit Fertigbauteilen zu bauen, rechnet sich nicht“, sagt der Wohnbauexperte, „es ist ein Märchen, dass Plattenbau wirtschaftlich ist.“
Die Siedlungen aus der Luft bei google maps: